Viel mehr als nur heiße Luft in Wurzen

Anfrage an den Sender Jerewan: Hatten Wandlitzer Schwimmbad und DDR-Schiffe etwas mit Wurzen zu tun? „Im Prinzip ja. In beiden wurden Flipse geschnurpst.“ Ulrich Heß würde das „im Prinzip“ gern streichen. Denn es gebe eine ganz direkte Beziehung: Die Maschinenfabrik (Mafa) habe Anlagen gebaut, die Ozon herstellten. Mit dem Ozon wiederum sei das Wasser aufbereitet worden – auf den Ozeanriesen wie auch für die planschenden DDR-Oberen.

Heß, selbst Wurzener, schaut nicht nur zurück – er blickt voraus. Wenn sich Politiker derzeit überbieten, der Rolle des Wasserstoffs bei der Energiewende zu huldigen, lächelt er nur müde. Wasserstoff sei in Wurzen seit mehr als 100 Jahren ein Thema: „1898 entwickelte die Firma Schütz ihren Wasserstoff-Abfüll-Verdichter. Auch zur Versorgung der Zeppelin-Luftschiffe kamen Wasserstoff-Kompressoren aus Wurzen zum Einsatz.“

Die Dresdener Straße in Wurzen ist vor allem laut. Hier donnern nicht wenige 40-Tonner. Auf den ersten Blick ist die Verkehrsader alles andere als schön – auf den zweiten dagegen sehr wohl. Villen, Kurven, Fabriken. Heß nennt sie die Industriemagistrale. Dort hat auch seine Standortinitiative Wurzen ihren Sitz. Unter deren Dach gründet sich demnächst die Arbeitsgemeinschaft (AG) Wasserstoff. Ein rundes Dutzend Firmen will hier beitreten.

Klassentreffen mit ehemaligen Mafa-Kollegen

Neben Heß gilt Corinne Ziege als Initiatorin. Sie ist Geschäftsführerin von Cryotec, jener Firma, die vor über 15 Jahren durch die beiden im Irak entführten Ingenieure René Bräunlich und Thomas Nitzschke deutschlandweit für Schlagzeilen sorgte. Sie beschwört das gute Miteinander der an besagter Dresdener Straße ansässigen Betriebe. Viele von ihnen seien aus der Firma Schütz und späteren Mafa hervorgegangen.

„Hast du noch einen Flansch?“ Was der eine gerade braucht, hat der andere garantiert auf Lager. Man helfe sich gegenseitig, sagt Corinne Ziege. Ob Tegas oder Heinsch – die gemeinsame Geschichte schweiße zusammen. So wundere es nicht, dass die Tage der Industriekultur zu regelrechten Klassentreffen werden: „Dann besuchen uns die alten Mafa-Kollegen“, sagt Ziege. In Spitzenzeiten arbeiteten weit über 700 Beschäftigte in dem volkseigenen Betrieb.

Unvergessen die Namen einstiger Industriekapitäne: Erich Kuntzsch, Peter Bienert, Günter Moths, Rudi Fleck. In 22 Länder gingen die Anlagen aus Wurzen. Nach China etwa, Jugoslawien, Ägypten, Syrien und Kuba. In Rumänien und Indien waren die Wurzener mit Gerhard Marchewitz, Helmut Daum und Hans Flemming vertreten. Die Maschinen hatten einen guten Ruf – sie konnten, es klingt beinahe märchenhaft, Luft in ihre Einzelteile zerlegen.

Landrat lobt Wurzener Initiative

Die Wasserstoff-Diskussion ist in Wurzen noch nie heiße Luft gewesen: „Im Gegenteil“, lacht Corinne Ziege. Luft bestehe unter anderem aus Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid und wenig Wasserstoff. „Um die einzelnen Gasmoleküle zu trennen, muss die Luft verflüssigt werden. Dazu wird sie auf minus 180 Grad Celsius heruntergekühlt. Die Anlagen, die dafür gebraucht werden, kommen aus Wurzen.“

Jürgen Reißig von der Firma Neuman & Esser, Eberhard Lüderitz von der World Resources Company, Hans-Christoph Seidel von Heinsch, Thomas Milde von der gleichnamigen Hydraulik GmbH, Gerhard Wilhelm von Ökotec, Helmut Schmeh von Faun Viatec Grimma, Marco Bauch von der Gießerei, Martin Bulst von Sciospec Scientific Instruments und Uwe Schmidt (Präzisionswerkzeuge) – sie alle wollen auch künftig an der Wasserstoff-Geschichte mitschreiben.

Landrat Henry Graichen (CDU) lobt die Initiative in Wurzen. Er selbst besucht nach Möglichkeit jedes Treffen der AG Wasserstoff. „Um diesen Energieträger effektiv einzusetzen, brauchen wir ein System, in dem Wasserstoff ökologisch erzeugt, transportiert, gespeichert und verwertet wird.“ Der Landkreis habe ein Netzwerk gegründet, um Produzenten mit Nutzern zusammenzubringen, so Graichen.

Der Patente-Jäger aus Lossa

Florian König an einer Vorrichtung zum Schweißen von Rohren. Foto: Haig Latchinian

Erfinder Florian König (29) aus Lossa will den elterlichen Bauernhof ohne Gas und Öl beheizen. Er ist Mitglied der AG Wasserstoff, die sich im Wurzener Land gründen wird.

Der 29-jährige Lossaer Florian König ist Mitstreiter der AG Wasserstoff und setzt große Hoffnungen in das Netzwerk. Der junge Tüftler heimst bereits eifrig Patente ein. Seine Erfindung: Ein Blockheizkraftwerk, das sich seinen eigenen Kraftstoff herstellt und dabei ohne fossile Brennstoffe auskommt. Mit seinem Wasserstoffkomplettmodul soll der elterliche Bauernhof in spätestens zwei Jahren autark sein.

„Dann sorgen wir selbst für Heizung und Strom“, kündigt er an. Er sei bereits mit Partnern im Gespräch, die das Modul bauen könnten. Sein Prototyp ist fertig. Photovoltaik sorgt für Strom. Den braucht der Karosserieinstandhalter, um die Elektrolyse zu befeuern. Der gewonnene Wasserstoff wandert in einen Drucktank und wird dem Aggregat bei Bedarf zugeführt. Der bei der Spaltung des Wassers anfallende Sauerstoff entweicht nicht sinnlos, sondern bringt den Motor auf Touren.

Für die nächsten zwei Generationen denken

Was auf einem Bauernhof möglich ist – warum soll das nicht auch in größerem Maßstab funktionieren, fragt sich der Thallwitzer Bürgermeister Thomas Pöge (parteilos). Nicht ohne Stolz berichtet er von der Wasserstoff-Versuchsanlage im Gewerbegebiet des Dorfes, die eine Firma zusammen mit mehreren Forschungsunternehmen betreibe. Von Beginn an unterstützt er das Wasserstoff-Netzwerk.

Genau wie sein Lossataler Amtskollege Uwe Weigelt (SPD). Im Solarpark Lüptitz sei er mit den Betreibern im Gespräch. Perspektivisch sei denkbar, einen Teil des produzierten Stromes für die Elektrolyse zu nutzen. Irgendwann ziehe der Steinbruch weiter, dann habe man Platz. Auch die vier Windräder könnten eingebunden werden: „Es geht nicht um kurzfristige Lösungen. Wir müssen für die nächsten zwei Generationen denken.“

Modellstandort in Metropolregion

Im Wurzener Land wachse etwas von unten, freut sich Ulrich Heß. Nirgendwo werde das deutlicher als in der Dresdener Straße. Cryotec lieferte erst im Dezember eine Elektrolyseanlage aus. „Im Moment arbeiten wir an Lösungen, den Wasserstoff sicher zu transportieren“, sagt Geschäftsführerin Corinne Ziege. Ein Verdichter werde benötigt, um den Wasserstoff vom Trägermedium zu trennen – da könne Neuman & Esser helfen …

Die Entwicklungen im Leipziger Umland würden auch von der Europäischen Metropolregion Mitteldeutschland beobachtet, betont Ulrich Heß. Die Wurzener Initiative sei dort seit neuestem als Modellstandort in der Pilotphase gelistet. Ein Erfolg, wenn man bedenke, dass es im ganzen Freistaat Sachsen nur 16 weitere solcher Standorte gebe. „Das ermutigt uns, als Lokomotive weiter Dampf zu machen – aber nur klimaneutral.

Quelle: LVZ vom 12.02.2022