Denken und Handeln aus einem Stück

Gedenktafel für Walter Cramer, Mitverschwörer am Hitler-Attentat, vorgestern in Leulitz enthüllt
Bennewitz/Leulitz. "Ich bin sehr bewegt, dass an die Geschichte in dieser Weise erinnert wird.

" Beatrix Heintze, die Enkelin des Leipziger Unternehmers Walter Cramer, enthüllte vorgestern Nachmittag in Leulitz – dort, wo einst die Villa ihrer Familie stand – zusammen mit dem Bennewitzer Bürgermeister Bernd Laqua (parteilos) und im Beisein interessierter Bürger eine Gedenktafel für Cramer, der als Mitverschwörer des Attentats vom 20. Juli 1944 auf Hitler am 14. November 1944 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden war.

Cramer, Vorstandsmitglied der Leipziger Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. AG, war enger Vertrauter des früheren Leipziger Oberbürgermeisters Carl Goerdeler, dem Kopf und Initiator des bürgerlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus, und unterstützte diesen durch seine Kontakte ins Ausland und die Übergabe von Dokumenten. Freisler, Chef des Volksgerichtshofes, bezeichnete ihn als "Handlungsreisenden der Putschisten". Wegen seiner kritischen Haltung zur NS-Politik der Judenvernichtung wurde gegen Cramer auf Initiative von Werner Stöhr, Vorstandsmitglied der Leipziger Wollkämmerei, bereits im April 1944 ein Prozess wegen "Wehrkraftzersetzung" angestrengt. Nach dem vermeintlich erfolgreichen Hitler-Attentat wurde Cramers Beteiligung offensichtlich, weil er als Politischer Beauftragter für den Wehrbezirk IV Dresden agieren sollte – zwei Tage später wurde er verhaftet.
Von seiner Villa sind heute nur noch wenige Steine übrig, halb überwuchert von Gras und Büschen. Sie war bereits Anfang der 1940er Jahre wegen der Erweiterung des militärisch genutzten Flugplatzes Waldpolenz abgerissen worden. Aber es existiert noch das eine oder andere Dokument. Manfred Strassberger, ehemals Museologe am Grimmaer und Wurzener Museum und damit schon von Berufs wegen an der Geschichte der Dörfer im Kreis interessiert, hatte sich nach seinem Umzug nach Leulitz vor 14 Jahren intensiv mit dem Cramerschen Landhaus befasst und aus Archiven und Privatbesitz Material zusammengetragen. "Die Villa wurde von den Leipziger Architekten Zweck & Voigt entworfen, die auch beim Grassimuseum federführend waren", wusste er zu berichten und nutzte die Gelegenheit, Beatrix Heintze einige Dokumente über ihren Großvater zu übergeben, beispielsweise eines von 1938, in dem es um den angeblichen Schwarzbau eines Wirtschaftsgebäudes ging, sowie ein Foto des ehemaligen Kutschers der Familie, Artur Senf. Heintze selbst verfügt nicht mehr über derartige Zeugnisse. Sie habe den privaten Nachlass, darunter auch ein Aquarell der Villa, vor zwei Jahren an das Leipziger Stadtarchiv übergeben, sagte sie, "weil mein Großvater Leipzig eng verbunden war".
"Das Puzzle um Cramer wird langsam komplett", freute sich auch Laqua. Er wohne seit 1991 nur einen Steinwurf entfernt und habe sich deshalb, ohnehin für die Geschichte der Ortsteile aufgeschlossen, auch für die Villa und ihre Bewohner interessiert. "Umso mehr habe ich mich gefreut, als mich Ulrich Heß von der Standortinitiative Wurzen auf den 70. Todestag von Cramer aufmerksam machte" – Heß hatte Heintze in den 90ern über eine Arbeitsgruppe der Universität Leipzig kennen gelernt – und eine Gedenktafel anregte." – "Es gab nicht viele Unternehmer, die sich gegen die Nazis engagierten, deshalb ist es wichtig, dass jemand wie Cramer auch gewürdigt wird", begründete dies Heß.
Abgerundet wurde das Bild von Walter Cramer am Abend bei einer Veranstaltung im Bennewitzer Rathaus. Heintze las aus Gefängnisbriefen und -notizen an seine Familie, zusammengefasst in ihrem 2013 erschienen Buch "Walter Cramer – Die letzten Wochen". Die meisten der Briefe hatte der katholische Gefängnispfarrer Peter Buchholz herausgeschmuggelt. Die Briefe zeigen einen Mann, den trotz Folter und trotz des drohenden Todes die Sorge um seine Familie und Mitarbeiter umtreibt und das Bemühen, ihre Zukunft abzusichern. Es ist bereits Heintzes dritte Publikation über ihren Großvater, bei dessen Tod sie gerade fünf Jahre alt war. Nur ein Bild, auf dem er sie mit dem Fahrrad kutschiere, gäbe der Erinnerung noch Kontur. 1993 erschien "Walter Cramer: Ein Leipziger Unternehmer im Widerstand" und 2003 "Walter Cramer, die Kammgarnspinnerei Stöhr & Co in Leipzig und die so genannte 'Judenfrage'. Materialien zu einer Gratwanderung zwischen Hilfe und Kapitulation". Die studierte Ethnologin und Historikerin, die in Frankfurt am Main lebt, hatte nach der Wende in diversen Archiven zu Cramer und damit zur jüngsten deutschen Zeitgeschichte geforscht. Ihr erster Besuch in Leipzig sei "überwältigend" gewesen, erinnerte sie sich. Sie habe sich damit ein Stück eigene Geschichte und Heimat zurückgeholt. "Deshalb auch war es so bewegend, dass ich heute hier lesen durfte, wo Cramer seine Wurzeln hatte. Und nur hier auch kann er im Gedächtnis weiter leben." – Vielleicht mit einer beim Philosophen Gottlieb Fichte entlehnten Maxime, die er am 10. Oktober 1944 in seinen Kalender notierte und mit der Heintze ihre Lesung schloss: "Denken und Handeln muss aus einem Stück sein."

Von Ines Alekowa

Quelle: LVZ v. 08.11.2014