Klimakiller als Rohstoff: Wurzener Firma fängt weltweit Kohlendioxid ein

Wurzen.

Kohlendioxid gilt als Klimakiller Nummer eins. In Wurzen ist das nur die halbe Wahrheit. Denn die dortige Firma Nikkiso-Cryotec betrachtet das Treibhausgas als wertvollen Rohstoff. Sie entwickelt das Equipment, das der Luft einzelne Abgase entzieht und diese aufbereitet. Sie werden gefiltert, gewaschen, verflüssigt. Am Ende landen sie etwa als Kohlensäure in Brauereien.

„Mit unseren weltweit ausgelieferten Anlagen konnten bestimmt schon drei Millionen Tonnen Kohlendioxid zurückgewonnen werden“, schätzt Corinne Ziege (Foto unten). Die 50-Jährige ist Geschäftsführerin des 40 Mitarbeiter starken Betriebes, der seine Produktionsfläche bis zum Frühjahr 2025 verdoppeln will: „Am Donnerstag feiern wir den ersten Spatenstich.“

An die schon bestehende, 2000 Quadratmeter große Fertigungshalle dockt ein ähnlich dimensioniertes zweites Bauwerk an, wobei die Betriebsteile ineinander übergehen werden. Sämtliche, aktuell im Grünen installierten Solaranlagen werden perspektivisch auf dem statisch entsprechend ausgelegten Dach der neuen Halle montiert.

Konzern investiert mehrere Millionen Euro

Die Nikkiso Clean Energy & Industrial Gases Group mit Sitz in Kalifornien (USA) als Teil des börsennotierten japanischen Konzerns Nikkiso hat weltweit über 1500 Beschäftigte. Die Unternehmung erwarb den Wurzener Betrieb Cryotec im Januar 2023 von der Thüringer Familie Henkel, die das Wurzener Werk 2009 gekauft hatte. In Wurzen investierte Nikkiso einen zweistelligen Millionenbetrag.

Luft sei viel mehr als nur Sauerstoff, den wir atmen, so Geschäftsführerin Ziege: In der Atmosphäre tummelten sich auch Stickstoff, Kohlendioxid und etwas Wasserstoff. „Um die einzelnen Gasmoleküle zu trennen, muss die Luft verflüssigt werden. Dazu wird sie auf minus 180 Grad Celsius heruntergekühlt. Die Maschinen, die dafür gebraucht werden, kommen aus Wurzen.“

Elektrotechniker Mark Weigel steht in der Produktionshalle, prüft Schaltschränke und die dazugehörige Sensorik. Die Anlagen, die in Modulen gebaut und in Containern ausgeliefert werden, arbeiten vollautomatisch: „Sie sind vernetzt und können miteinander sprechen. Es gibt eine zentrale Einheit, das Gehirn, das anderen Baugruppen entsprechende Anweisungen gibt.“

Ein Mitarbeiter wurde 2006 im Irak als Geisel genommen

Der Kunde setzt sich die Teile im Lego-Prinzip zusammen, informiert Weigel. Kevin Bernhard ist Schweißer, René Bräunlich der Fertigungsleiter. Bräunlich ist einer der beiden Ingenieure, die am 24. Januar 2006 im Irak entführt und erst nach 99 Tagen freigelassen wurden. Das Geiseldrama sorgte damals deutschlandweit für Schlagzeilen.

Daniel Glaschke, der Monteur, ist die gute Seele. Er wohnt in Wurzen und hat Schafe. Einige seiner drolligen Wollknäuel stehen derzeit auf dem Firmengelände und halten das Gras unterhalb der Sonnenkollektoren kurz. „Angefangen hatten wir mit acht Schafen, inzwischen sind es zwölf“, lacht Geschäftsführerin Ziege.

Zu den Feierlichkeiten am Donnerstag begrüßt sie neben Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) auch den japanischen Botschafter, Hidenao Yanagi, Nikkiso-Executive-Chairman Peter Wagner sowie CEO Adrian Ridge. Immer öfter wird auf den Fluren des Betriebs in Englisch kommuniziert – die Belegschaft ist international.

Von Jordanien über Indien bis Südafrika – die Mitarbeiter kommen aus sieben Ländern. Die jungen Ingenieure seien motiviert und super ehrgeizig, lobt Chefin Ziege. Irgendwann würden sie Familien gründen und sich in Wurzen niederlassen. Demnächst miete man Büros in Leipzig an, um noch mehr Kollegen ein gemeinschaftliches Arbeiten zu ermöglichen.

Beschäftigtenzahl wird sich mehr als verdoppeln

Die Aussichten für die Firma seien vielversprechend. Bis 2030 wachse die Zahl der Beschäftigten auf 100. Der Kauf durch Nikkiso sei eine Win-win-Situation, ist Geschäftsführerin Ziege überzeugt: „Die Rückgewinnung von Kohlendioxid, die wir machen, fehlte den Japanern bisher im Portfolio, umgekehrt profitieren wir von den Wasserstoff-Erfahrungen in Übersee und können diese für Europa anwenden.“

In der neuen Werkhalle würden schon bald Wasserstofftankstellen gebaut, aber auch Wasserstoff-, Ammoniak- sowie Sauerstoffpumpen. Gleiches gelte für Wärmetauscher, heißt es aus Konzernkreisen. Was die Energiewende betrifft, mausere sich der Betrieb zu einer Keimzelle für Europa. Schon jetzt gelten die Wurzener firmenintern als Ansprechpartner für den ganzen Kontinent.

Wasserstoff beschäftigt die Wurzener seit über 100 Jahren

Die Wasserstoff-Diskussion war in Wurzen noch nie heiße Luft. „Wasserstoff ist in Wurzen seit mehr als 100 Jahren ein Thema“, sagt Ulrich Heß von der örtlichen Standortinitiative. „1898 entwickelte die Firma Schütz ihren Wasserstoff-Abfüll-Verdichter. Auch zur Versorgung der Zeppelin-Luftschiffe kamen später Wasserstoff-Kompressoren aus Wurzen zum Einsatz.“

Inzwischen hat sich die AG Wasserstoff gegründet, verrät Initiator Heß: „Viele der Mitgliedsbetriebe gingen aus der Firma Schütz und späteren Mafa hervor.“ So wie auch Nikkiso-Cryotec. Die Firma sucht aktuell den Kontakt zu regionalen Biogasanlagen. Warum? „Weil neben Biomethan dort auch Kohlendioxid anfällt. Wir haben die Technik, es aufzubereiten und zu vermarkten.“

Von Haig Latchinian  

Quelle LVZ Lokales 28.08.2024

Die an der Mulde ansässige Firma Nikkiso-Cryotec baut Anlagen, durch die Abgase einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Jetzt verdoppelt der Betrieb seine Produktionsfläche. Von Haig Latchinian