Selbst Ur-Wurzener staunen: Im kleinen Mühlbach nahe der Muldestadt steht die älteste Zuckerfabrik Mitteleuropas

Besitzer und Standortinitiative Wurzen stellen das Bauwerk zu den Tagen der Industriekultur vor, die noch bis Sonntag einladen. Aber auch sonst engagiert sich der Verein mächtig in seiner Region – für Gegenwart und Historie.

Georg Rolf Petersitzke steht mit einem dicken Aktenordner vor dem alten Gemäuer im Wurzener Ortsteil Mühlbach. Hier verbrachte der 72-Jährige einst seine Kindheit, er kannte jeden Winkel des Ritterguts, das nach der Bodenreform 1945 mehrere Neubauern-Familien bekamen. „Oben waren die Wohnungen, im Erdgeschoss gab es ein Schlachthaus, sogar mit einem Flaschenzug, das war was Besonderes“, erzählt er. Jahrzehnte später recherchierte er in Archiven die Geschichte dieses Hauses, die er am Sonntag im Rahmen der Tage der Industriekultur interessierten Besuchern vorstellen will.

Es geht zurück in Napoleons Zeiten. Der Kriegsherr verhängte 1806 in Berlin eine Wirtschaftsblockade über die britischen Inseln. Was bedeutete: Zucker wurde teuer in Deutschland. Deshalb gründete Familie Lorenz im kleinen Mühlbach eine Zuckerfabrik. Ihre drei Rittergüter – darunter Mühlbach – lieferten alles, was sie dazu brauchten: Natursteine, Ziegel, Holz.

So entstand der 70 Meter lange Bau mit dem damals 30 Meter hohen Schornstein. Angetrieben wurde die Produktion per Göpel (Kraftmaschine) von Simmentaler Ochsen, einer kräftigen Rasse aus Bayern, die im Kreis liefen. Einen Nachfahren, Ochse Hans, lernte Petersitzke als Kind noch kennen. Er sei ein braves Tier gewesen. Wenn sein Onkel rief „Hans, du Schweinehund, komm her!“, trabte der 27 Zentner schwere Riese artig an, berichtet der Heimathistoriker lachend und sucht im dicken Ordner nach dem Foto, auf dem sein Onkel auf Hans reitet.

16 Arbeiter, zwei Tagelöhner, ein Schreiber und ein Werk-, Siede- und Brandmeister arbeiteten früher in der Fabrik. 16 000 Zentner Runkelrüben wurden dort in einem Vierteljahr verarbeitet. Sie ergaben 585 Zentner Zucker und Zuckerprodukte, zum Beispiel Sirup.

Dass dieses Haus heute noch steht, ist Familie Jung zu verdanken. 1945 enteignet, bekam sie in den 1990er-Jahren das Grundstück zurück – samt alter verfallener Fabrik. Und gründete ein Agrarunternehmen, „immer an der Kampflinie entlang erfolgreich“, wie es Dieter Jung formuliert. Der 72-Jährige hat den Betrieb bereits seinem Sohn Thomas übergeben. Es gelang, für das große alte Haus eine neue Nutzung als Scheune zu finden.

„Das ist das Entscheidende: Man braucht eine neue Funktion, sonst kann man die Gebäude nicht erhalten“, sagt Ulrich Heß. Der 71-Jährige ist das Gesicht der Standortinitiative Wurzen, die 2003 gegründet wurde und die Stadt wirtschaftlich und kulturell weiter nach vorn bringen möchte. Der promovierte Historiker, der sich seit Jahrzehnten mit Industriekultur beschäftigt, ist sachsenweit vernetzt zu diesem Thema.

Gemeinsam mit Jörg Ludwig und Dirk Schaal „entdeckte“ er die Mühlbacher Zuckerfabrik wieder, die zu den ältesten noch baulich erhaltenen Fabriken dieser Art in Mitteleuropa zählen soll. Seit einigen Jahren lädt sein Verein regelmäßig zu Veranstaltungen an der Fabrik ein. Jetzt gibt es sogar Hoffnung auf Fördergeld, sodass dort ein Rastplatz mit Informationstafel, Pavillon, Sitzplätzen und Fahrradständern entstehen könnte. Das Projekt soll ebenfalls am Sonntag vor Ort vorgestellt werden.

Dies ist eine von vielen Veranstaltungen bei den Tagen der Industriekultur, zu denen die Standortinitiative in der Muldestadt mit den Leipziger Organisatoren einlädt. Vor zwei Jahren startete der Verein hier mit kleinem Programm – mehr als 300 Besucher interessierten sich dafür. Ein Jahr später fiel der Termin auf den Tag der Sachsen in Wurzen, sodass die Initiative erst jetzt wieder dabei ist. Mit vielen Führungen in sechs Unternehmen, einer Ausstellungseröffnung sowie Einladungen in Fabrik und Bahnhof ist die Beteiligung intensiv. Das Vereinstelefon klingelte pausenlos, weshalb die meisten Führungen ausgebucht sind. „Wir können mit der Resonanz mehr als zufrieden sein“, sagt Heß schon zur Halbzeit. Noch heute und morgen stellt sich moderne und historische Industriekultur auch in Wurzen vor (Termine in der Infobox).

Die Standortinitiative mit mehr als 80 Mitgliedern, vor allem Firmen, ist mehr als ein örtlicher Gewerbeverein. „Industrie ist für unsere Gesellschaft und auch für unsere Stadt wichtig“, sagt Ulrich Heß. Viele Leute würden ja sagen, Industrie sei langweilig, und es werde sowieso immer mehr geschlossen. Aber so könne erstens nicht erwartet werden, dass sich junge Leute dafür begeistern. Und zweitens entspreche dies nicht den Tatsachen. Wurzen habe viele kleine und große mittelständische Unternehmen, die erfolgreich und zum Teil weltweit agieren.

Gemeinsam mit der Stadtverwaltung gehe es dem Verein um lokale und regionale Wirtschaftspolitik, um gute Bedingungen für Unternehmen. Regelmäßig finden Gesprächsforen und Aktionen statt, am Montag kommt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD).

Derzeit gibt es in der Region Wurzen eine Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent. Damit liege man unter dem Bundesdurchschnitt – und das in Ostdeutschland, sagt Heß. „Ein Vorteil ist, dass dadurch die Löhne steigen, ein Nachteil, dass es immer schwieriger wird, ausgebildete Fachkräfte zu bekommen“, so der Wissenschaftler. Sein Verein will deshalb jetzt mit Hilfe von Leader-Förderung ein großes Fachkräfte-Projekt gemeinsam mit Schulen und Unternehmen starten.

 

Außerdem wächst die Initiative. Umliegende Gemeinden sollen hinzukommen. Die Änderung des Vereinsnamens ist schon beantragt: Standortinitiative Wurzen & Wurzener Land.

VON CLAUDIA CARELL

 

Quelle: LVZ vom 13.08.2016

 

Es soll die älteste noch erhaltene Zuckerfabrik in Mitteleuropa sein. Morgen kann man mehr
darüber erfahren.Fotos: Andreas Döring

 

Engagieren sich für Industriekultur: Georg Rolf Petersitzke (v. l.), Dieter und Thomas Jung
sowie Ulrich Heß. Fotos : Andreas Döring