Älteste baulich erhaltene Zuckerfabrik auf dem europäischen Kontinent steht in Mühlbach bei Wurzen
Heute von der Familie Jung bewirtschaftet, prägen das bis heute erhaltene Gebäude und der Schornstein als einzige bauliche Zeugnisse aus dieser Pionierphase der deutschen Rübenzuckerindustrie das Bild Mühlbachs. Bauherr war Friedrich von Lorenz, der in den Jahren von 1810–1812 diese Fabrik errichten ließ.
21 Tonnen Putz wurden von Hand verarbeitet
Nach 7 Jahren war im September 2020 ein anspruchsvolles Werk getan. Der Schornstein, 2013 bei der Landesausstellung Industriearchitektur in Sachsen noch ein Mahnmal des Verfalls ist nun zur Landmarke zwischen Wurzen, Kühren und Wermsdorf geworden. Er soll neugierig machen auf die Mauern der ältesten erhaltenen Zuckerfabrik auf dem europäischen Kontinent, die nach den Plänen des Schöpfers der Rübenzuckerherstellung Achard gebaut worden ist. Ein mit Abschluss der Bauarbeiten eingeweihter Rastplatz liegt am Radweg nach Kühren und wird Teil des Wurzener Land-Radweges sein.
Historie kurz gefasst
Als Kontinentaleuropa während der Kontinentalsperre (1806–1815) von Zuckerimporten abgeschnitten war, gründeten geschäftstüchtige Kaufleute und Agrarunternehmer auch in Sachsen erste Rübenzuckerfabriken. Zur Zuckergewinnung aus Rüben ließ Baron Freiherr Friedrich v. Lorenz auf seinem Mühlbacher Rittergut zwei große Fabrikgebäude und zwei kleinere Bauwerke errichten.
Nach Aufhebung der Kontinentalsperre musste die noch nicht konkurrenzfähige Zuckergewinnung aus Rüben wieder aufgegeben werden. Friedrich von Lorenz stellte 1817 den Betrieb ein und verkaufte 1818 Rittergut und Fabrikanlage. In den 1890er Jahren wurde das Gut für eine Tochter des Leipziger Arztes Moritz Schreber (1808–1861) erworben. 1945 wurde die Familie enteignet. Die Nachfahren Dieter und Carmen Jung erwarben das Gut 1991 zurück, sanierten es und nutzen es agrar-gewerblich.
Bewegte Geschichte einer Industrie, die Zucker vom Luxusgut zu einem Grundnahrungsmittel machte
Zucker war spätestens seit dem 18. Jahrhundert ein in Europa nachgefragtes Genussmittel. Wie Kaffee, Kakao, Tee oder Tabak war auch der Zucker eine so genannte Kolonialware und wurde überwiegend aus Amerika importiert. Zuckerimporte machten im 18. Jahrhundert einen bedeutenden Posten in den Handelsbilanzen der europäischen Staaten aus, weshalb merkantilistisch eingestellte Ökonomen forderten, dass dieses Geld doch besser im Lande bleiben solle. In den Zucker importierenden Ländern Europas suchte man daher seit dem 18. Jahrhundert intensiv nach Alternativen zum Rohrzucker.
Wissenschaftliche Neugier, Spekulations- und Unternehmergeist sowie am Rande der Diskussion auch Kritik an der Sklaverei beflügelten die Suche nach Alternativen zum Rohrzucker. Im Jahr 1747 hatte der preußische Chemiker Andreas Sigismund Marggraf den Nachweis eines dem Rohrzucker identischen Zuckers in der heimischen Runkelrübe erbracht.
Marggrafs Schüler Franz Carl Achard entwickelte um 1800 technische Verfahren zur Rübenzuckergewinnung. Nachdem Achard dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) im Jahr 1799 die ersten Zuckerproben hat zukommen lassen, ordnete der König weitere Versuche zum Rübenanbau und zur Rübenzuckergewinnung an. Im niederschlesischen Cunern (poln. Konary) betrieb Achard mit königlich-preußischer Unterstützung ab 1802 eine Versuchsfabrik, in der er Interessierte aus ganz Europa ausbildete.
Gut Mühlbach um 1790 Lokomobile als Antriebsgerät
Achards Versuche waren nicht zuletzt durch seine Publikationen populär und fanden sofort zahlreiche Nachahmer. Der Wirtschaftsmodernisierung verpflichtete Wissenschaftler, Agrarökonomen und -unternehmer sahen in der Runkelrübe und ihrer Weiterverarbeitung zu Zucker im landwirtschaftlichen Nebengewerbe eine Möglichkeit, Importe durch heimische Produkte zu ersetzen, die Agrarwirtschaft zu modernisieren, die Erträge und nicht zuletzt die eigene Grundrente zu steigern.
Bereits im Jahr 1799 sind die ersten Versuche im mitteldeutschen Raum erwähnt: auf dem Gut des ehemaligen Kanzlers der hallischen Universität Carl Christoph von Hoffmann (1735–1801) in Dieskau bei Halle und in einer bis 1803 vom Freiberger Wissenschaftler Wilhelm August Lampadius (1772–1842) betriebenen Versuchsfabrik im damals noch kursächsischen Bottendorf/Unstrut. Wie alle frühen Rübenzuckerfabriken kamen auch diese beiden über das Versuchsstadium nicht hinaus und hatte so nur eine kurze Lebensdauer.
In diesem unsicheren Versuchsstadium erhielt die Rübenzuckergewinnung durch die von Napoleon verfügte Kontinentalsperre (1806–1814) Unterstützung. Mit der Blockade englischer Waren verteuerte sich auch der Rohrzucker spürbar – der Aufbau einer heimischen Erzeugung lag nun auch in staatlichem Interesse. Im napoleonisch beherrschten Europa wurde die Rübenzuckergewinnung staatlich unterstützt, deutsche Zentren waren die Pfalz – damals französisches Departement Donnersberg – und das Köngreich Westphalen, hier v.a. die Stadt Magdeburg.
Zuckerfabrik mit Rübenfeld um 1940 (© Familie Dieter und Carmen Jung) Zuckerfabrik – Brennerei Bauzustand 1992 (© Familie Dieter und Carmen Jung)
Unter diesen Rahmenbedingungen gründete Friedrich von Lorenz (1777–1848) seine Zuckerfabrik in Mühlbach. Lorenz war seit 1810 Schwiegersohn des Rübenzuckerpioniers Moritz von Koppy (1749–1814). Auf seinem Gut Krain in Niederschlesien war Koppy direkter Nachbar Achards und nahm regen Anteil an dessen Versuchen. Er errichtete eine nach Achards in seinem Hauptwerk „Die europäische Zuckerfabrikation aus Runkelrüben“ entworfene Musterfabrik, außerdem machten er und sein Sohn sich als Zuckerrübenzüchter einen Namen.
Mit Koppys Erfahrungen errichtete Lorenz nun auf seinem Rittergut in Mühlbach bei Wurzen eine Zuckerfabrik: zwei große Fabrikgebäude und zwei kleinere Bauwerke. Für die damalige Zeit hatte sie eine beachtliche Größe, bei optimaler Rübenversorgung hätten 40.000 bis 80.000 Zentner Zuckerrüben im Jahr verarbeitet werden können.
Die praktische Überführung der Rübenzuckergewinnung aus dem Labor in die Praxis war aber noch lange nicht vollzogen. Um eine Konkurrenzfähigkeit zum Kolonialzucker herzustellen, brauchte es noch etwa 20 Jahre. Die noch zunächst nicht gelösten Probleme einer kontinuierlichen, qualitativen und ausreichenden Rohstoffversorgung – so wurden in Mühlbach durchschnittlich nur 10.000 Zentner Zuckerrüben im Jahr verarbeitet – sowie die noch im Experimentierstadium befindliche Zuckergewinnungstechnik verteuerten den Rübenzucker gegenüber dem Rohrzucker. Nach Aufhebung der Kontinentalsperre sanken die Zuckerpreise rasant: 1818/19 befanden sie sich auf durchschnittlich einem Drittel der Höchstpreise während der Kontinentalsperre. So mussten selbst als solide angesehene Unternehmen den Betrieb einstellen.
Die Gründung dieser einzigen sächsischen Rübenzuckerfabrik in jener Zeit ermöglichten ein zinsgünstiger staatlicher Kredit und die Steuerbefreiung für den hier gewonnenen Rübenzucker. Mit überschaubarem Risiko für den sächsischen Staat entstand so in Mühlbach eine Versuchsfabrik, die Interessierten offenstehen und zu weiteren Gründungen anregen sollte. Von 1812 bis 1817 wurde hier aus Rüben Zucker gewonnen.
1818 verkaufte Friedrich von Lorenz das Rittergut. Der Chemnitzer Kaufmann Alexander Ludwig Krause pachtete die Fabrik, baute die Apparate aus und richtete damit 1837 seine neue Fabrik in Limehna bei Eilenburg ein. Die Gebäude in Mühlbach wurden von nun an unterschiedlich genutzt. Das 1810/11 errichtete, beeindruckend große Fabrikgebäude mit Schornstein ist heute noch erhalten und damit das letzte bekannte Zuckerfabrikgebäude aus dieser ersten Gründungsphase der deutschen Rübenzuckerindustrie im mitteldeutschen Raum. Beim derzeitigen Erkenntnisstand handelt es sich bei dem Gebäude um das älteste erhaltene als Rübenzuckerfabrik errichtete Gebäude überhaupt.
Ernstzunehmender Konkurrent für das Zuckerrohr wurde der Rübenzucker allerdings erst ab den 1830er Jahren. Weitere Verbesserungen von Technik, Verfahren und Abläufen sowie beim Anbau ausreichender Mengen zuckerreicher Rüben waren notwendig, damit der Rübenzucker zunächst den Rohrzucker vom heimischen Markt verdrängen und sich die Rübenzuckerindustrie dann zu einer der bedeutendsten Exportindustrien Mitteleuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickeln konnte.
Bedeutendes Bauwerk – möglicherweise das älteste noch existierende Anfangsglied in der Entwicklung des Fabriktyps „Zuckerfabrik“
Nur wenige Zuckerfabriken der „Pionierphase“ wurden lehrbuchmäßig nach Achards Vorgaben angelegt. Aus der Literatur bekannt sind die zerstörte Fabrik von Koppy in Krain und die Fabrik von Lorenz in Mühlbach. Achards Lehrfabrik selbst brannte mehrfach ab, das letzte verbliebene Gebäude wurde 1945 zerstört, von ihm existieren heute nur noch die Grundmauern (s. Abb. S. 4). Andere Pionierunternehmer wiederum stellten ihre Apparate zur Zuckergewinnung in bereits bestehenden Gebäuden auf. Dies konnten feste Gebäude auf landwirtschaftlichen Gütern, aber auch säkularisierte Klöster sein.
Die auf dem Agrargut Jung in Mühlbach überlieferten Gebäude der vormaligen Zuckerfabrik entsprechen dem Ausgangstyp aller späteren Rübenzuckerfabriken. Sie sind – möglicherweise sogar das älteste noch existierende – Anfangsglied in der Entwicklung des Fabriktyps „Zuckerfabrik“ (s. Abb. S. 2–3, 4–5, 9, 12–13).
Bis in die 1850er Jahre wurden Zuckerfabriken im landwirtschaftlichen Nebenbetrieb betrieben. Beispielhaft stellt sich die Verbindung von Zuckerfabrik und anderen Nebenbetrieben (Getreide- und Ölmühlen, Brennerei und der Rohstoffgewinnung am Beispiel des „agrarindustriellen Komplexes“ von J.G. Boltze in Salzmünde bei Halle dar (s. Abb. S. 10–11).
Spätestens mit der technischen Innovation des Diffusionsverfahrens für die Gewinnung des zuckerhaltigen Rübensaftes wurden die Weichen zum Großbetrieb gestellt. Jedoch änderte sich am bereits bei Achard angelegten Fabrikschema nichts (s. Abb. S. 14–17). Bis heute folgt der technologische Ablauf und Fabrikaufbau den Verfahrenstufen: Rübenreinigung, Saftgewinnung, Saftreinigung, Verdampfen und Kristallisation.
Ausgehend von den Zentren der Rübenzuckerindustrie entwickelte sich die Rübenzuckergewinnung vom landwirtschaftlichen Nebengewerbe zunehmend zum Haupterwerbszweig der mit Zuckerrübenanbau und Betrieb einer Zuckerfabrik befaßten Agrarunternehmer. Zuckerfabriken prägten den Industrialisierungsprozess in Mitteluropa. Zentren waren das sog. mitteldeutsche Rübenanbaugebiet mit seinem Kerngebiet im Dreieck Braunschweig–Magdeburg–Halle (Saale), weiterhin Niederschlesien, Mähren und Böhmen sowie Nordfrankreich und Belgien.
Neben einer intensiven Landwirtschaft, die sich vor allem durch den Zuckerrübenanbau rasant modernisierte, bestimmten hier entstandene Maschinenbauunternehmen für Agrar- und Zuckergewinnungstechnik die regionale Wirtschaftsstruktur. Von hier aus breitete sich die fabrikmäßige Zuckergewinnung über die ganze Welt aus.
Auch wenn Sachsen nicht diesen Zentren der Rübenzuckerwirtschaft zuzurechnen ist, spielte es in der Gründungsphase bis zur Besteuerung der jungen Industrie ab dem Jahr 1841 eine wichtige Rolle (s. Karte S. 6–7). Die ehemaligen Fabrikgebäude der von Lorenz’schen Zuckerfabrik in Mühlbach sind neben der Siedlung Salzmünde bei Halle (Saale) und dem Technische Denkmal Zuckerfabrik Oldisleben in Nordthüringen ein bedeutendes und einzigartiges Bauerbe dieser Industrie. Einer Industrie, die Zucker vom Luxusgut zu einem Grundnahrungsmittel machte.
Dass die Mühlbacher Fabrik erst jüngst „wiederentdeckt“ worden ist, liegt u.a. an den traditionell auf Preußen fokussierten Untersuchungen zur Rübenzuckerindustrie. Weiterhin an der weitaus größeren wirtschaftlichen Bedeutung, die die Rübenzuckerindustrie insbesondere im heutigen Sachsen-Anhalt hatte. In den einschlägigen Lehrbüchern steht die Region Sachsen-Anhalt so beispielhaft für eine Industrialisierung aus der Landwirtschaft heraus – Sachsen hingegen für eine Industrialisierung, die sich aus einer seit dem Mittelalter herausgebildeten Gewerberegion mit Bergbau und Textilherstellung entwickelt hat. Bis heute ist daher auch das Interesse an den mit der Agrarwirtschaft verbundenen Industrien in Sachsen wenig ausgeprägt.
Umso wichtiger ist es nun, diesen authentischen Ort zu bewahren, hierüber zu informieren und ihn in ein größeres Netzwerk einzubinden. (Geschichte und Bedeutung aufgearbeitet von Prof. Dr. Dirk Schaal)
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